Partizipationsformat STADT-FORUM
Am 23. Mai 2022 veranstaltet der Städtebaubeirat Saarbrücken das vierte »STADT-FORUM« mit dem Thema »Post-Corona-Stadt«. Was die Aufgaben dieses Gremiums sind, wie sich Menschen aktiv an der Gestaltung ihrer Stadt beteiligen können und vor welchen Herausforderungen Saarbrücken aktuell steht, verraten uns die Städtebaubeiratsmitglieder Luca Kist und Sascha Saad.
Dock 11: Hallo Luca, Hallo Sascha! Danke, dass ihr euch die Zeit nehmt für unsere Fragen. Am 23. Mai veranstaltet der Städtebaubeirat im co:hub66 das 4. STADT-FORUM – Thema dieses Mal: Die »Post-Corona-Stadt«. Könnt ihr uns kurz erläutern, wer hinter dem Städtebaubeirat steckt und was Besucher:innen vom STADT-FORUM erwarten können?
Luca Kist und Sascha Saad: Der Städtebaubeirat ist ein unabhängiges, nicht weisungsgebundenes Fachgremium in der Landeshauptstadt Saarbrücken, welches sich mit objektübergreifenden Stadtteil- und Quartiersentwicklungen, aber auch mit aktuellen städtebaulichen Leitlinien zu den Themen Wohnen, Freiraum oder Mobilität befasst. Er besteht größtenteils aus Kolleg:innen der planenden Berufe, also Stadt- und Raumplaner:innen, Architekt:innen und Landschaftsarchitekt:innen. Aber auch Fachdisziplinen der Geographie, Verkehrsplanung und Soziologie sind vertreten.
Das STADT-FORUM ist ein Partizipationsformat, welches der Städtebaubeirat erstmalig 2015 ins Leben gerufen hat, um die interessierte Bürgerschaft zu aktuellen Fragen der Stadtentwicklung einzubeziehen und dem öffentlichen Diskurs mehr Raum und Beachtung zu geben. Das heißt: mitreden und diskutieren ist ausdrücklich erwünscht, auch wenn es nicht auf alle und teilweise komplexen Fragestellungen Antworten geben wird. Aber eine Orientierung, Positions- und Argumentationsbestimmung kann das STADT-FORUM durchaus leisten.
Dock 11: Wieso eignet sich der co:hub66 eurer Meinung nach für dieses Event und wie seid ihr auf die Location gestoßen?
Mitreden und diskutieren ist ausdrücklich erwünscht!
Luca Kist: Was uns mit dem co:hub66 verbindet, ist der partizipative und interdisziplinäre Ansatz, der für den Transformationsprozess beispielsweise im Bereich des Einzelhandels oder der Dienstleistungsgesellschaft unerlässlich ist. Außerdem hat uns die Bandbreite der Akteur:innen vor Ort und das damit verbundene Netzwerkangebot und die Themenkongruenz fasziniert. Ein klassisches »bulls-eye«! Der Kontakt kam Saarland-like zustande: kurze Wege verbunden mit: »Ich kenne jemanden der jemanden kennt«.
Dock 11: Welche Rolle kann die Kultur- und Kreativwirtschaft eurer Ansicht nach für die Post-Corona-Stadt spielen und welche Inputs erhofft ihr euch von den Kreativakteur:innen Saarbrückens im Rahmen des STADT-FORUM?
Luca Kist und Sascha Saad: Zunächst einmal müssen wir attestieren, dass die letzten zwei Jahre die Kultur- und Kreativwirtschaft derart hart getroffen haben, dass deren Aktivitäten, die natürlich auch mit Existenzen und Lebensmodellen einhergehen, nahezu völlig zum Erliegen gekommen sind. Nun ist aber diese Branche mit unglaublicher Motivation und Leistungsbereitschaft gesegnet, sodass wir zuversichtlich sind, den Phönix aus der Asche bald wieder aufsteigen zu sehen. Was wir uns vor allen Dingen erhoffen, sind wichtige Informationen aus den Betroffenengruppen der Kreativ- und Kulturszene beispielsweise zu deren Bedarfen. Das heißt: was benötigt die Branche zukünftig an Infrastruktur, Plattformen, Fördermitteln oder sonstigem Background? Transformation und Lösungsansätze durch geteiltes Wissen!
Des Weiteren möchten wir uns auf den aktuellsten Stand bringen lassen, welche Konzepte, Szenarien und Impulse aktuell vorliegen, die der KKW wieder auf die Erfolgsspur verhelfen.
Creative Labs kommt eine besondere Bedeutung für den Wissens- und Informationstransfer zu
Spannend wird es auch sein zu hören, welche Formen der Zusammenarbeit, der Kooperationen oder des Mitwirkens zukünftig denkbar sind oder bereits praktiziert werden, um den Transformationsprozess auch in dieser Branche zu meistern. Creative Labs wie dem co:hub66 oder dem East Side Fab kommt dabei eine besondere Bedeutung für den Wissens- und Informationstransfer zu.
Dock 11: Welches sind neben den Corona-Auswirkungen die weiteren großen Herausforderungen für Europas Städte im Allgemeinen und Saarbrücken im Speziellen?
Luca Kist und Sascha Saad: Die Herausforderungen haben sich nicht verändert, sie wurden durch Corona lediglich wie durch einen Teilchenbeschleuniger in der Priorisierung nach vorne katapultiert. Das heißt konkret, die im Gang befindliche Mobilitätswende, die sich durch die Digitalisierung wandelnden Prozesse – so unter anderem das veränderte Einkaufs- und Arbeitsverhalten, die zunehmende Multilokalität und die Individualisierung der Märkte, die sich wandelnden Produktionsbedingungen, die besondere Betrachtung der nachhaltigen Stadtentwicklung im Zeichen des Klimawandels, der Energiekrise, der Biodiversitätskrise, die Förderung nachhaltiger Konsummuster und der urbanen Kreislaufökonomie.
In Saarbrücken stehen weiterhin der Umgang mit dem immensen Bedarf an qualitätvollem und bezahlbarem städtischem Wohnraum im Vordergrund, dazu die sich im Gang befindliche Mobilitätswende und die Prozesse, die sich durch die Digitalisierung wandeln. Das veränderte Einkaufs- und Arbeitsverhalten ist mit Veränderungen in den Bedarfen nach Menge und Art von Wirtschaftsflächen für den Einzelhandel und Dienstleistungen verbunden.
Die Bestandsentwicklung von leerstehenden Immobilien in der Innenstadt als wichtigem Attraktivitätspol (z. B. Alte Post, ehem. C&A-Gebäude, Karstadtunterführung, aktuell auch Europagalerie) sind unter anderem wichtige Themen, die zusammen mit den relevanten Akteur:innen angegangen bzw. fortgeführt werden sollten.
Gerade Freiräume sind auch wichtig für nachhaltige Strategien
Das gilt jedoch nicht nur für die gebaute Umwelt. Auch Freiräume, Grünflächen, Plätze besitzen viele wichtige Funktionen im kleinen wie im großen Maßstab, die gefördert werden sollten. Das gilt sowohl für wachsende als auch schrumpfende Bereiche der Stadt. Gerade Freiräume sind auch wichtig für nachhaltige Strategien im Umgang mit der Klima-, Energie- und Biodiversitätskrise sowie für die Gesundheit der Bevölkerung – das hat die Coronakrise gezeigt.
Im größeren Maßstab betrachtet, sehen wir für die langfristige Stadtentwicklungsplanung der Landeshauptstadt auch den Bedarf eines Leitbildes nach dem Vorbild des »grünen Ring« in Köln oder des »grünen U« in Stuttgart.
Saarbrücken könnte mit seiner einmaligen landschaftlich-topographischen Lage, umgeben von waldbestandenen Hügelketten, durchzogen von dem blauen Band der Saar und inspiriert durch seine Wissens- und Dienstleistungskompetenzen zur klimafreundlichsten Landeshauptstadt der Bundesrepublik werden. Wir empfehlen seit geraumer Zeit auch eine Machbarkeitsstudie zur Prüfung einer Großveranstaltung nach dem Format einer Bundesgartenschau.
Dock 11: Saarbrücken hat vor ein paar Jahren mit dem Abriss der Becolin-Fabrik einen bundesweit beachteten Kreativort verloren. Einer der letzten verbliebenen innerstädtischen Freiräume für kreative Milieus ist nun der Osthafen mit Rhenania-Gebäude und dem Silo, welcher gerade im Rahmen der Konzeptvergabe des Areals viel mediale Aufmerksamkeit erhält. Welche Relevanz haben solche Orte eurer Meinung nach für eine Stadt und warum sind sie erhaltenswert?
Kreative Schmelztiegel benötigen für ihre volle Entfaltungsmöglichkeit Raum für »Unberechenbares«
Luca Kist: Milieustudien haben bewiesen, dass genau diese Orte Keimzellen der Innovation sind und ihre Magnetwirkung für die Attraktivität von Quartieren und ganzen Stadtteilen nicht unterschätzt werden darf. Diese kreativen Schmelztiegel, gewissermaßen »Melting-pots«, die den Erfinder- und Entwicklergeist beschwören, benötigen für ihre volle Entfaltungsmöglichkeit Raum für »Unberechenbares« mit Labor- und Experimentiercharakter. Dabei sollte auch die Möglichkeit des Scheiterns zugelassen werden können.
Ferner sind sie Teil der Argumentation für die weichen Standortfaktoren, die es ermöglichen, junge Generationen und vor allen Dingen die gut ausgebildeten Fachkräfte für einen Verbleib im Saarland und im Speziellen in Saarbrücken zu überzeugen.
Ein klassisches »bulls-eye«!
Dock 11: In Europa werden derzeit vielfältige Lösungen entwickelt, um den urbanen Leerstandsproblematiken zu begegnen. Welche Herangehensweisen sind eurer Meinung nach hier besonders sinnvoll für Saarbrücken?
Luca Kist: Mit dem digitalen Leerstandsmanagement, das Anfang des Jahres auf den Weg gebracht wurde, hat die Verwaltung der Landeshauptstadt bereits einen längst überfälligen wichtigen Schritt unternommen. Die Vernetzung von Immobilien- und Grundstücksbesitzern kann eine effektivere und gezieltere Bestandsentwicklung bewirken und dem Flächenfraß auf der Grünen Wiese entgegenwirken. Außerdem sind wir der festen Überzeugung, dass der pandemisch bedingte Bedarfsrückgang an Büro- und Einzelhandelsflächen uns zu neuen Instrumenten und Handlungsempfehlungen zwingen wird.
Wir müssen uns aktiv darauf vorbereiten, dass wir Stadtbesuche zukünftig als ganztägige Einkaufserlebnisse interpretieren
Hier bedarf es einer kommunalen Regie-Anweisung, wie durch Leerstandsmanagement und Unterstützung der Wirtschaftsförderung auch kleineren Playern der Zugang ermöglicht wird, beispielsweise durch temporäre Pop-up-Stores oder Start-up-Stores, wo lokale Akteure ihre Geschäftsideen verwirklichen können.
Wir müssen uns aktiv darauf vorbereiten, dass wir Stadtbesuche zukünftig als ganztägige Einkaufserlebnisse interpretieren – mit einer Angebotsmischung aus Handel-, Kultur- und Gastronomie-Erlebnissen, am besten noch mit Bootstour über die Saar. Showrooms, Click-and-Collect oder Flagship-Stores werden die zukünftigen Angebote des Handels sein. Wir müssen für das kulturelle, kulinarische und kommunikative Begleitprogramm sorgen.
Dock 11: Gentrifizierungsprozesse sind auch in Saarbrücken immer stärker wahrnehmbar. Luxuswohnungen schießen in der City wie Pilze aus dem Boden, günstiger Wohnraum wird zur Mangelware, gleichzeitig kämpft insbesondere der inhaber:innengeführte Einzelhandel ums innerstädtische Überleben. Wie kann der Städtebaubeirat dazu beitragen, dass Saarbrücken eine vielschichtige wie überregional attraktive »Stadt für alle« bleiben kann?
Luca Kist und Sascha Saad: Gentrifizierung lässt sich nicht an allen Orten verhindern. Schließlich bedarf es auch einer Modernisierung der Stadt, die Geld kostet. Sie sollte jedoch verträglich sein, das heißt, nicht zu viel Fläche, nicht zu viele Menschen an einem konkreten Ort betreffen. Wir haben uns bereits vor Jahren für eine verbindliche Sozialquote und/ oder eine Quote für bezahlbaren Wohnraum ausgesprochen. Da es diese Regelung immer noch nicht gibt, versuchen wir bei allen sich bietenden Gelegenheiten, darauf hinzuweisen. Das Land, vertreten durch das Ministerium für Inneres, Bauen und Sport, könnte hier auch eine wichtige Vorreiterrolle übernehmen, beispielsweise bei dem Großprojekt in der Mainzer Straße, bei dem neben der großen Polizeiinspektion auch Wohnraum in nicht geringem Umfang entstehen soll.
Der Verkauf städtischen Eigentums sollte gestoppt und zugunsten von Pachtmodellen ersetzt werden
Der Verkauf städtischen Eigentums sollte gestoppt und zugunsten von Pachtmodellen ersetzt werden, um die Steuerungsfähigkeit der Stadt zu erhalten. Der Kauf und Rückkauf von privaten Flächen wäre ebenfalls sinnvoll – angesichts leerer Kassen jedoch schwierig. Vielleicht ergibt sich mit der möglichen Entschuldung der Kommunen durch den Bund hier ein Gelegenheitsfenster.
Wie wichtig solche Regelungen für die stadtsoziologische Vielfalt sind, zeigen Städte wie Speyer, Trier oder Mannheim, München. Die dort entstehenden Wohnungsbauprojekte halten Angebote für unterschiedliche Lebensmodelle oder soziale Milieus bereit und sorgen damit für eine ausgewogene gesellschaftliche Bevölkerungsstruktur, die sich auch auf die Angebotsvielfalt der Versorgungs-, Mobilitäts- und Naherholungsinfrastruktur positiv auswirkt.
Insbesondere bei der Thematik des motorisierten Verkehrs und der Mobilität allgemein haben wir eklatanten Nachholbedarf. Solange die Pendlerzahlen in Saarbrücken hoch sind, und das alternative Mobilitätsangebot zum eigenen Pkw aufgrund von fehlender Vernetzung und komplizierter Tarifstruktur unattraktiv bleibt, wird auch die Lebens- und Aufenthaltsqualität in der »Stadt für alle« leiden. Die durch den Ukraine-Krieg ausgelöste Energiekrise könnte auch hier eine Chance sein, dem ÖPNV mehr Beachtung zu schenken.
Die Ankündigung der Stadtverwaltung, dem sogenannten »Langsamverkehr« durch die Einrichtung von Radfahrstraßen und die Ausweitung der Fussgängerzone mehr Bedeutung zuzuordnen, sind auch wichtige Impulse bei der Bewältigung der innerstädtischen Überlebensstrategie.
Dock 11: Das STADTFORUM am 23. Mai ist eine Möglichkeit. Wie können sich interessierte Menschen außerdem an der Entwicklung ihrer Stadt aktiv beteiligen? Habt ihr Beispiele, welche Formate eine Beteiligung der Bürger:innenschaft positiv auf Stadtplanung einwirken lassen?
Beteiligung im Sinne von Partizipation ergibt Sinn, wenn diese Wirkung entfalten kann
Luca Kist und Sascha Saad: Wir sind große Anhänger von Bürger:innen- oder Beteiligungsworkhops. Der damalige Workshop zum Großprojekt »Stadtmitte am Fluss« ist ein sehr positives Beispiel dafür und wurde auch auf Bundesebene für seine Qualitäten mit einer Auszeichnung gewürdigt. Aber auch das Format der Bürger:innenwerkstätten, welches die Stadtverwaltung pandemiebedingt absagen musste.
Wichtig bei all diesen Formaten sind zwei wesentliche Aspekte:
1. Die Bürger:innen müssen sich angesprochen und abgeholt fühlen. Das heißt: die alleinige Ankündigung auf der Homepage der Stadt oder in der Presse bringt es nicht. Internet und Social Media erreichen wirklich nicht alle Teile der Bevölkerung – insbesondere nicht den größer werden Teil der Älteren. Hier sind auch lineare Medien gefragt. Auch die Vor-Ort-Akteur:innen, beispielsweise die Quartiersmanager:innen oder die Mitarbeiter der Gemeinwesenarbeit leisten hier als Multiplikatoren einen wesentlichen Beitrag durch direkte Ansprache, Überzeugung und Erklärung.
2. Beteiligung im Sinne von Partizipation ergibt Sinn, wenn diese Wirkung entfalten kann, das heißt zu einem ausreichend frühen Zeitraum bis hin zum konkreten Ausgestalten vor Ort – und nur dann, wenn es etwas mitzubestimmen gibt (und es nicht nur beim Informieren bleiben soll). Klare Regeln über die Reichweite der Beteiligung sind daher wichtig vorab zu kommunizieren, um auch langfristig die Bürger:innen zum Mitmachen zu motivieren.
Dock 11: Vielen Dank, Luca und Sascha! Wir freuen uns auf einen spannenden Austausch am 23. Mai im co:hub66!
Alle Infos zum 4. STADT-FORUM findet ihr hier!