Theaterfestival in schwierigen Zeiten
Wir haben ein Interview mit dem Team vom Festival PERSPECTIVES geführt über die Planung eines Theaterfestivals in sehr schwierigen Zeiten. Es geht um Engagement, strukturelle Unterschiede zwischen der deutschen und französischen Kulturlandschaft, Pläne für die Zukunft und vieles mehr.
Das Jahr drei der Corona-Pandemie ist angebrochen. Die einen halten sie für beendet, andere sind da noch nicht so optimistisch. Wer Recht behält, werden wir erst rückblickend wirklich sagen können. Aber alle müssen mit dieser immer noch ungewissen Situation arbeiten. Besonders die Kultur- und Kreativbranche hatte in den vergangenen zwei Jahren mit harten Einschränkungen und schlechter Planbarkeit zu kämpfen. So auch das Festival PERSPECTIVES, das 2020 komplett ausfallen musste und seither zum zweiten Mal unter äußerst kniffligen Bedingungen geplant wird. Wir unterhalten uns mit Sylvie Hamard, der künstlerischen Leiterin des Festival PERSPECTIVES, Martha Kaiser, der stellvertretenden künstlerischen Leiterin und der Pressereferentin Marion Touze über die Herausforderungen, in solch schwierigen Zeiten ein Festival zu planen.
Dock 11: Herzlichen Dank ihr drei, dass Ihr euch Zeit für unsere Fragen nehmt! 2020 habt ihr vergleichsweise kurzfristig ein fast fertig geplantes Festival absagen müssen. Was waren für euch die größten Herausforderungen in der Rückabwicklung des internationalen Festivals?
Martha: Normalerweise sind wir auf sehr viele Stolpersteine in der Planung vorbereitet, es ist ein Teil des Festivalalltags. Mit einer Pandemie hätten wir nie gerechnet. Alles war neu für uns, daher mussten wir auch erst einmal begreifen, was die Absage bedeutet. Auch, was Rückabwicklung bedeutet. Es war ein noch nie dagewesener Fall, es gab noch keine rechtlichen Grundlagen, auf die wir uns stützen konnten… Wir haben nach und nach dazugelernt.
Wir mussten auch erst einmal begreifen, was die Absage bedeutet.
Sylvie: Wir waren sehr viel im Austausch mit den Künstler:innengruppen, mit unseren Kooperationspartnern, mit den Träger:innenn und Sponsor:innen. Der größte Wunsch war, dass das Personal trotz Absage weiterhin angestellt bleibt und ein Ausfallhonorar für die Künstler:inengruppen bezahlt werden konnte. In Frankreich wurde dies schneller in die Praxis umgesetzt als in Deutschland. Wir haben das Glück, tolle Sponsor:innen bzw. Ansprechpartner:innen zu haben, mit den wir sehr vertrauensvoll und offen sprechen können. Alle hatten größtes Verständnis für die Situation und haben zugesagt, ihre finanzielle Unterstützung nicht zurückzuziehen. Wir sind ihnen extrem dankbar. Wenn das Festival nicht stattfindet, heißt das nämlich nicht, dass es keine Ausgaben mehr gibt.
Marion: Das ist ein Punkt, der sehr wichtig ist. Das wollten wir in unserer Kommunikation klarstellen. Denn die Frage wurde öfters gestellt: Was machen Veranstalter:innen mit großem Etat und u.a. Fördergeldern, wenn die Veranstaltung aufgrund der Pandemie nicht stattfindet? Es war für uns wichtig, dass so wenig Leute wie möglich unter den Konsequenzen der Absage des Festivals leiden, denn die Situation war und bleibt schlimm genug für viele Berufe in unserer Branche und darüber hinaus. Wenn keine Kulturveranstaltungen mehr stattfinden, werden zum Beispiel keine Flyer oder Programmhefte gedruckt und auch keine verteilt. Es gibt eine Reihe von Menschen abgesehen vom Team und von den Künstler:innengruppen, die mit dem Festival gerechnet hatten, und auf einmal musste alles ausfallen. Die Rückabwicklung bzw. die Nachbereitung einer nicht stattgefundenen Festivalausgabe macht keinen Spaß und war eine administrative und juristische Herausforderung.
Dock 11: Das Jahr 2021 war ja zu Beginn wieder durch strenge Auflagen und Kontakt-Beschränkungen gekennzeichnet. Wie geht man mit dem Schlag des Vorjahres im Nacken und ungewisser Zukunft in die Planung der nächsten Ausgabe?
Marion: 2020 waren wir alle noch so naiv, was die Dauer der Pandemie angeht! Wir haben es sogar so in unsere Pressemitteilungen und Newsletter geschrieben: »Wir planen jetzt schon für 2021 und freuen uns auf ein Wiedersehen«.
Grenzschließungen haben uns alle sehr getroffen.
Martha: Am Anfang konnten wir uns nicht vorstellen, dass die Pandemie auch einen Einfluss auf die 2021er Ausgabe haben würde. Wir wollten unbedingt, dass etwas stattfindet. Gerade im Hinblick auf die deutsch-französischen Beziehungen, die Grenzschließungen haben Spuren hinterlassen.
Sylvie: Ja, die Grenzschließungen haben uns alle sehr getroffen. Wir haben gedacht: Um so wichtiger ist es jetzt, dass das Festival stattfindet, dass wir zwischen dem Saarland und dem benachbarten Département Moselle weiterhin Brücken bauen, dass wir mit unseren Mitteln, mit Kunst und Kultur die Leute zusammen bringen. Wir wollten unbedingt beweisen, dass wir es schaffen können, dass etwas stattfinden kann.
Marion: Wir haben uns viel Zeit genommen, um gemeinsam Brainstorming zu machen. Wir haben uns alle möglichen Situationen vorgestellt: Von der Lockdown-Situation über die Veranstaltung Live und in Farbe bis hin zum Verbot von Menschenansammlungen und die Schließung der Theatersäle. Da die Situation außergewöhnlich war, haben wir gedacht, wir können auch das Außergewöhnliche denken. Wir haben uns die verrücktesten Ideen und Formate ausgedacht – erstmal ohne Rücksicht auf die Konkretisierung. Wir haben nach kreativen Lösungen gesucht. Ich glaube, wir haben diesen Moment gebraucht, um voran kommen zu können, weiter planen zu können.
Kunst und Kultur und somit die aktuelle Bühnenkunst sind eine absolute Notwendigkeit.
Sylvie: Diese Zeit hat auch unseren Beruf und den gesamten Bereich, für den wir uns täglich abrackern, in Frage gestellt. In Frankreich wurde zwischen relevanten und nicht-relevanten Tätigkeiten unterschieden. Die Bühnenkunst wurde der Kategorie der nicht-relevanten Tätigkeiten zugerechnet. Diese Sichtweise und dieses Weltverständnis sind für unsere Sparte ziemlich schwer zu akzeptieren. Ich glaube, das hat uns noch mehr Energie gegeben, weil wir unter Beweis stellen wollten, dass Kunst und Kultur und somit die aktuelle Bühnenkunst eine absolute Notwendigkeit sind.
Dock 11: Ihr habt das Festival zweigeteilt gefeiert und habt damit tatsächlich auch live Veranstaltungen im Spätsommer anbieten können. Wie haben die Besucher:innen die beiden Teile angenommen?
Martha: Es gab einen ersten, vollständig digitalen, Festivalteil im Mai und einen zweiten Teil mit Präsenzveranstaltungen Ende Juli 2021. Die Entscheidung, die Ausgabe 2021 in zwei Teile aufzugliedern, wurde spät getroffen, da wir zunächst gehofft hatten, ein Präsenzfestival durchführen zu können. Als wir gemerkt haben, dass das nicht möglich sein würde, weil die Säle in Frankreich und Deutschland wahrscheinlich noch nicht wieder geöffnet sein würden, haben wir uns dazu entschlossen, im Mai ein ganz digitales Festival zu machen, und zwar in dem Zeitraum, der seit langem für das Festival feststand.
Sylvie: Als die Entscheidung gefallen war, haben wir direkt den zweiten Festivalteil in Präsenz angekündigt. Wir hatten dem Publikum dieses Versprechen gegeben. Das war sehr wichtig für mich, denn das, was das Festival wirklich ausmacht, ist die Begegnung, die menschliche Verbindung. Das Festivalteam konnte und wollte sich nicht damit zufrieden geben, eine rein digitale Ausgabe anzubieten. Und wir wussten, dass ein Teil unseres Publikums das digitale Programm nicht nutzen wollen würde – aus verschiedenen Gründen, was wir auch verstehen.
Marion: Die einen besuchen nicht so gern einen Theatersaal, die anderen tun sich schwer damit, online zu gehen, um ein Theaterstück digital zu erleben. Es gibt unterschiedliche Hindernisse, und es ist sehr interessant, dies zu analysieren. Darum haben wir unsere Öffentlichkeitsarbeit und Strategie der Theatervermittlung angepasst.
So viele Zuschauer:innen hatten wir im Saal noch nie bei Publikumsgesprächen! Dies wurde uns durch das Digitale ermöglicht.
Martha: Letztlich ist uns das Publikum aber durchaus ins digitale Abenteuer gefolgt. Manche Zuschauer:innen waren sehr skeptisch, haben uns aber vertraut und wollten wissen, was es zu sehen gab, aus Neugierde. Die Rückmeldungen, die wir bekamen, waren größtenteils voller Begeisterung. Andere haben sich auf völlig neues Terrain gewagt, blieben dem digitalen Charakter des Angebots gegenüber allerdings kritisch, wenn auch der Arbeit der Künstler:innen gegenüber aufgeschlossen.
Sylvie: Bei der digitalen Ausgabe wollten wir im Anschluss an die ja live stattgefundenen Vorstellungen Gesprächsmöglichkeiten mit den künstlerischen Teams eröffnen. Wir waren recht überrascht, dass so viele Personen dabeiblieben, um diesen Austausch zu erleben. Es stimmt zwar, dass wir alle vor unseren Monitoren saßen, aber es wurde doch eine echte Verbindung geknüpft. Bis zu 200 Personen haben gleichzeitig an diesen Begegnungen teilgenommen. So viele Zuschauer:innen hatten wir im Saal noch nie bei Publikumsgesprächen! Dies wurde uns durch das Digitale ermöglicht.
Marion: Beim Sommerteil des Festivals war alles ganz neu, sowohl für unser Team als auch für das Publikum. Es war das erste Mal, dass das Festival mitten im Sommer stattfand, in den Ferien, mit einem fünftägigen Programm jeweils über den ganzen Tag verteilt. Das Publikum konnte endlich doch zu uns kommen, es war da und nahm die Coronamaßnahmen geduldig hin.
Martha: Wir haben alle in Deutschland und Frankreich – jeweils unterschiedlich – geltenden Coronaregelungen eins zu eins umgesetzt. Die Abstandsregeln und Beschränkungen der Platzkapazität sogar im Außenbereich haben das Festival ein bisschen seltsam anmuten lassen. Aber die Künstler:innen waren so froh, endlich wieder spielen zu dürfen, das Publikum war froh, Stücke zu sehen und das Festivalteam war froh, diese Begegnungen begleiten zu dürfen. Das ließ uns bald vergessen, dass die Zuschauerreihen nur spärlich besetzt waren.
Bei den Konditionen, die wir erfüllen mussten, blieb kein Raum für Festivalstimmung.
Sylvie: Das hatte in der Tat einen Effekt für die uns so wichtige Festivalstimmung. Bei den Konditionen, die wir erfüllen mussten, blieb kein Raum für Festivalstimmung. Ich hoffe sehr, wieder an diesen wesentlichen Aspekt des Festivals anknüpfen zu können – und das Publikum wartet ebenfalls sehnsüchtig darauf!
Dock 11: Wieviel Plan B hattet ihr in der Hinterhand?
Sylvie: Wir hatten vor allem einen Plan A: ein Präsenzfestival. Für einen Plan B gab es viele Ideen… aber das Schwierigste war, herauszufinden, wann der Plan B zum Tragen kommen musste. Wir haben wirklich viel Zeit damit verbracht, uns über die einzelnen Maßnahmen in Frankreich und Deutschland zu informieren und alles immer wieder zu aktualisieren. Die Dinge wurden in den beiden Ländern unterschiedlich gehandhabt. Als deutsch-französisches und grenzüberschreitendes Festival waren wir von der Grenzfrage unmittelbar betroffen. Es stand außer Frage, ein Festival nur in einem einzigen Land stattfinden zu lassen, oder etwa nur für ein Publikum aus Deutschland. Wir hätten damit das Wesen des Festivals in Frage gestellt.
Martha: Für Mai wurden, sobald wir uns für einen rein digitalen Festivalteil entschieden hatten, nacheinander Programm, Koordination und Logistik umgesetzt. Für den Juli waren die Dinge komplizierter: Es gab viele Unbekannte, die das Fortkommen der Arbeit am Programm behinderten. Würden die Künstler:innen aus Belgien und Frankreich einreisen können, um in Saarbrücken zu spielen? Würden die Impfpässe der Künstler:innen aus anderen europäischen Ländern in Deutschland anerkannt werden? Wie wären die fehlenden Abstände auf der Bühne in den Produktionen der Freien Szene, die wir eingeladen haben, zu rechtfertigen, wenn doch diese noch in den saarländischen Theatern beachtet werden mussten? Würden wir die Künstler:innen für einen längeren Zeitraum als geplant bei uns haben können, damit sie ggf. mehrere Tage proben könnten – denn sie hatten ja durch die Pandemie seit langer Zeit nicht mehr gespielt? Wir haben wahnsinnig viel Zeit gebraucht, bis das Programm stand.
Dock 11: Wie und wo findet ihr üblicherweise eure Künstler:innen und was hat sich in den letzten beiden Jahren in der Suche verändert? Auch ihr konntet euch ja nicht beliebig in den deutschen und französischen Theatern inspirieren lassen.
Sylvie: Eigentlich reisen wir viel nach Frankreich, Deutschland, Belgien, aber auch nach Luxemburg und in die Schweiz. Wir sehen das ganze Jahr über viele Stücke, sei es im Rahmen der Spielzeit, sei es auf Festivals. Und setzen Stücke auf unser Programm, die uns wegen ihrer Originalität gefallen oder wegen der Aussagekraft ihres Themas, wegen ihrem Anderssein, ihrer ungewöhnlichen Form… Es sind Stücke, die wir sehr gern mit dem Festivalpublikum teilen wollen. Wir tauschen uns auch viel mit anderen Theater- und Festivalleiter:innen aus, mit den »chargé·es de diffusion« (Personen, die sich, um die Vermarktung der Stücke kümmern) der Compagnien, um die Arbeit der Künstler:innen, die wir bereits kennen, wie auch die Neuentdeckungen zu verfolgen.
Vordere Reihe: v.l.n.r. Célia Galiny, Jasmin Domke, Lola Wolff, Adèle Teutsch, Hilke Wesner. Foto: Festival PERSPECTIVES
In Deutschland hat die Freie Szene nicht dieselbe Bedeutung wie in Frankreich und Belgien.
Martha: 2020 und 2021 war die Situation für die Künstler:innen in Deutschland eine ganz andere im Vergleich zu Frankreich und Belgien. Für alle sind die Termine reihenweise ausgefallen. Aber in Frankreich und Belgien konnten die Künstler:innen weiter arbeiten und ihre Arbeit dem Fachpublikum weiterhin vorstellen. Die Theater konnten kein öffentliches Publikum empfangen, aber haben ihre Bühnen und Probenräume den Künstler:innen und Compagnien zur Verfügung gestellt. Wir konnten also weiterhin Stücke schauen, wenn auch nicht im selben Umfang, aber möglich war es.
In Deutschland hat die Freie Szene nicht dieselbe Bedeutung wie in Frankreich und Belgien, und der Status als Künstler:in ist anders. Viele deutsche Compagnien hatten nicht diese Möglichkeit, ihre Arbeit vorzustellen oder weiter Stücke zu entwickeln.
Sylvie: Wir erleben in Frankreich gerade eine Art Stau: Zahlreiche Produktionen sind auf Tournee, die von vor der Pandemie, die, die während der Pandemie produziert wurden, und die, die jetzt neu herauskommen. Alle diese Stücke sollen die Chance haben, ein Publikum zu finden.
Marion: Für PERSPECTIVES 2022 wollten wir die Stücke einladen, die bereits für 2020 geplant waren, und die Künstler:innen, denen wir schon zugesagt hatten, nicht im Stich lassen. Aber wir wollen ja auch den neuen Produktionen ihren Raum geben.
Dock 11: Hat sich die Zusammenarbeit mit den Künstler:innen, die ja auch nur unter schwierigen Bedingungen arbeiten und proben konnten, verändert? Und wenn ja, wie?
Martha: Wegen der für uns neuen Situation seit 2020 waren wir eng in Kontakt mit den Compagnien, die wir einladen wollten und die wegen der Absage nicht im Rahmen des Festivals auftreten konnten. Es war für alle wichtig, aufseiten der Compagnie wie aufseiten des Festivals, sehr offen und transparent zu kommunizieren. Durch den Austausch bezüglich der Schwierigkeiten, auf die wir bei der Organisation des Festivals, bei der Entstehung der Stücke und der Tourneekoordination stießen, haben wir uns besser kennengelernt.
In Deutschland sind Künstlerresidenzen nicht so verbreitet wie in Frankreich. Aber es gibt klar eine Nachfrage.
Sylvie: 2020 konnte das Festival nicht stattfinden, und wir haben uns gefragt, wie wir die Produktionen unterstützen könnten. In diesem Zusammenhang haben wir beschlossen, eine erste Künstler:innenresidenz anzubieten. In Deutschland sind Künstler:innenresidenzen nicht so verbreitet wie in Frankreich. Aber es gibt klar eine Nachfrage. Wir haben den deutschen Künstler Kolja Huneck bei der Schaffung seines Stücks CM_30 begleitet. Wir haben ihm einen Probenraum und technische Begleitung zur Verfügung gestellt. Dies ist eine Form der künstlerischen Zusammenarbeit, die neu für uns ist, und die wir uns weiter vorstellen können. Aber wir haben keinen eigenen Raum, was die Dinge erschwert.
Die diesjährige Ausgabe habt ihr ja auch zweigeteilt, aber anders. Was hat den Ausschlag dazu gegeben?
Marion: Wir sehen die Sache ein bisschen anders. Das Festival findet im Juni 2022 in Präsenz als Block statt. Aber wir haben uns dazu entschlossen, den Rahmen der zehn Tage im Jahr zu verlassen und von Beginn des Jahres an PERSPECTIVES-Termine anzubieten. Wir hatten verschiedene Ideen: Am Anfang stand die Zusammenarbeit mit dem Kollektiv punktlive…
Sylvie: Nach dem Erfolg des ersten Stücks werther.live dieses ganz jungen Kollektivs, punktlive, das wir 2021 während unserer digitalen Ausgabe auf dem Programm hatten, hatten wir den Wunsch geäußert, ihre zweite Produktion zu koproduzieren. PERSPECTIVES hat möwe.live koproduziert. Es handelt sich um digitales Theater. Dabeisein kann man von seinem Computerbildschirm aus. Es war klar, dass sich niemand für so etwas im Juni interessieren würde, wenn das Wetter schön und es warm draußen ist und die Theatersäle wieder geöffnet sind. Darum haben wir die Termine für möwe.live in den Winter verlegt, auf Februar und März, und das Publikum hat es gern angenommen.
Nach diesen zwei so besonderen Jahren, die wir durchleben mussten, wissen wir, dass es nicht selbstverständlich ist, wieder ins Theater zu gehen.
Martha: Wir wollten auch eine Dynamik gleich am Anfang des Jahres entfalten. Nach diesen zwei so besonderen Jahren, die wir durchleben mussten, wissen wir, dass es nicht selbstverständlich ist, wieder ins Theater zu gehen. Schon zu normalen Zeiten gibt es zahlreiche Hindernisse, ein Theater aufzusuchen. Aber in ein Theater im Nachbarland zu fahren wie bei PERSPECTIVES, setzt noch eine Schwierigkeit obendrauf. Das Ganze dann in der Coronazeit hat die Sache noch einmal verkompliziert. Die Leute haben neue Gewohnheiten, gehen vielleicht weniger aus oder machen andere Dinge mit ihren Freund:innen oder entscheiden sich erst in letzter Minute.
Marion: Uns ist das alles bewusst, denn wir sehen, wie sehr sich die Dinge für uns selbst verändert haben. Indem wir Termine ab Jahresanfang anbieten, wollen wir das Publikum von jetzt an bis Juni wieder an uns gewöhnen, es für unsere Infos empfänglich machen, es mobilisieren, jetzt schon Theater anzuschauen, es die Theatersäle und die Freude an der Begegnung im Zeichen der Bühnenkunst wiederentdecken lassen, und das gemeinsame Erleben, das uns so gefehlt hat, in den Vordergrund stellen.
Dock 11: Wie hat sich denn die Kommunikation und Pressearbeit in den beiden Jahren verändert?
Marion: Wir haben uns angepasst und Entscheidungen im Bereich Kommunikation getroffen, die einen Bruch mit dem bedeuteten, was wir bisher gewohnt waren. Wir mussten darauf achten, dass das Publikum uns folgt. Hier ein Beispiel: Wir mögen Papier und wissen, dass unser gedrucktes Programmheft nötig ist, dass jedes Jahr viele Zuschauer:innen schon darauf warten. 2021 haben wir für unser Digitalprogramm entschieden, auf Print-Kommunikation zu verzichten. Wir hatten Angst, die Informationen auf dem Papier festzuhalten, die wegen der sich ständig ändernden Coronalage vielleicht eine Woche später schon überholt sein würden. Die Verteilung des Programmhefts war im Übrigen unmöglich geworden, weil die öffentlichen Orte wie Bars, Restaurants, Theater, wo man sie sonst finden kann, geschlossen waren. Aber wir konnten etwaige Änderungen nicht vornehmen, ohne das Publikum zu informieren. Also haben wir einen Brief formuliert, der an unseren gesamten Publikumsverteiler verschickt wurde, indem wir offen über unsere Entscheidung kommuniziert und die Gründe dargelegt haben, und erklärt haben, wieso man sich für unseren Newsletter anmelden oder uns auf den sozialen Netzwerken folgen sollte, damit man nämlich die neuesten Informationen nicht verpasst. Und das Publikum hat mitgemacht.
Es ist auch gut, das eigene Tun infrage zu stellen.
Sylvie: Außerdem hatten wir die teuerste Pressekonferenz in der Geschichte des Festivals! Alles fand digital statt, von der Programmpräsentation bis zur Fragerunde der Journalist:innen. Wir haben alles in die Hände einer professionellen Technikfirma gelegt, die uns beim Livedreh und der Online-Übertragung der Präsentation unseres Digitalprogramms begleitet hat.
Martha: Damit die Pressekonferenz lebendiger wird, obwohl sie ja rein digital war, haben wir Videoclips gemacht, in denen die Künstler:innen ihre Arbeit in einigen Worten vorstellen konnten. Wir mussten das Konzept der Pressekonferenz vollkommen umdenken.
Marion: Und es ist auch gut, das eigene Tun infrage zu stellen! Ein Vorteil war, dass wir die Aufmerksamkeit der Journalist:innen und Partner erreichen konnten, die sonst nicht zu einer unserer Präsenz-Pressekonferenz gekommen wären, sich aber so die Zeit genommen haben, digital dabei zu sein.
Im Übrigen war die Herausforderung der letzten beiden Jahre, so klar und transparent wie möglich zu kommunizieren. Für unser ganz und gar digitales Festival mussten wir die Zuschauer:innen im Hinblick auf die technische Herausforderung begleiten, erklären, Vorbehalte nehmen, bereitstehen, um alle technischen Fragen zu beantworten, eventuelle Schwierigkeiten vorwegnehmen. Für unser Präsenzfestival mussten wir auch viel erklären und ständig die online verfügbaren Informationen an die aktuellen Coronaregeln der verschiedenen Orte in Frankreich und Deutschland anpassen, da wir ja wussten, dass es Unterschiede bei den Ländern gab. Wir haben noch nie so viel Zeit für einen FAQ-Katalog aufgewendet, um alle nur denkbaren Fragen im Vorfeld zu beantworten!
Schließlich meine ich, dass man sich immer schon die Zeit nehmen musste, zu erklären, zu vermitteln, Informationen zu wiederholen, und das ist heute nicht anders. Dies erfordert Zeit und Geduld. Wenn wir es aber schaffen, den Besorgnissen und Fragen der Zuschauer:innen mit den richtigen Antworten zu begegnen, können wir auch sicher sein, dass sie zum Festival kommen, und dann erweist sich diese Arbeit als absolut notwendig.
Sylvie: Das Publikum versteht dann, dass wir wirklich gut vorbereitet sind und dass wir alles getan haben, um gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen.
Dock 11: Darf denn aus den Neuerungen dieser beiden Jahre etwas bleiben, oder fiebert ihr den Zeiten entgegen, in denen ihr wieder gänzlich zur alten Form zurückkehren könnt?
Sylvie: Wir wären schon sehr glücklich, ein Festival 2022 wie wir es von früher kennen zu veranstalten, also wie 2019! In diesen zwei Jahren haben wir gelernt, pausenlos uns anzupassen. Sollte die Lage sich bis Juni wieder ändern, was wir wirklich nicht wollen, dann hätten wir aber das Handwerkszeug, uns neu zu erfinden.
Wie nachhaltig ist die Bühnenkunst?
Martha: Die beiden letzten Jahre haben uns gezwungen, unser Metier, unsere Arbeitsweise und unseren Bezug zum Digitalen zu hinterfragen. Wir haben sogar – endlich! – unseren eigenen deutsch-französischen Webshop für den Kartenvorverkauf eingerichtet. Es ist sicher, dass etwas von diesen Reflexionen bleiben wird. Vielleicht ist es noch zu früh, sich alles dessen bewusst zu werden, Abstand zu gewinnen oder genau zu umreißen, was das sein wird. Und vor allem: Die Lage ist ja weit davon entfernt, wieder normal zu sein. Wir sprechen uns wieder, wenn Corona ein für alle Mal erledigt ist.
Marion: In einem größeren Zusammenhang lässt die Pandemie, aber auch die Umweltkrise in der Welt Fragstellungen aufkommen, die mit unserer Tätigkeit und der aktuellen Bühnenkunst verquickt sind. Die Fragen gab es schon vorher, aber sie erhalten heute eine neue Bedeutung. Zum Beispiel: Wie nachhaltig ist die Bühnenkunst? Ist es akzeptabel, dass die Künstler:innen auf Tournee gehen und innerhalb von zwei Wochen drei oder vier Länder durchqueren, mit dem Flugzeug, das Bühnenbild fährt per LKW hinterher? Viele Kulturakteure und Künstler:innen treffen sich, um sich über solche Fragen auszutauschen und Antworten zu erarbeiten. Als Festival sind wir in der Tat sensibel für solche Themen. Es ist also schwierig, eine Festivalform wie 2019 zu finden, ohne sich mit diesen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Das wird die Herausforderung der nächsten Jahre sein!
Zum Titelbild: Lars Eidinger in »Soll mir lieber Goya den Schlaf rauben als irgendein Arschloch« | Festival Perspectives 2019 | Foto: Oliver Dietze
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